Schleuserkriminalität "Tägliche Einzelfälle bald auch hier?!" steht auf den Bannern vor der geplanten Unterkunft

Von Vanessa Nischik
Volontärin Nachrichten & Gesellschaft / Axel Springer Academy

Stand: 29.08.2023 | Lesedauer: 8 Minuten

Mit einem Brandbrief hat der Präsident der Bundespolizeidirektion Pirna jüngst Alarm geschlagen. Seine Behörde stoße aufgrund der steigenden Migrationszahlen an ihre Belastungsgrenze. Die Auswirkungen der aktuellen Migrationspolitik zeigen sich auch im beschaulichen Bautzen. Fast täglich greifen Polizisten hier illegal Eingereiste auf.

Seit 2020 gehen tschechische und deutsche Polizisten gemeinsam auf Streife im Kampf gegen grenzüberschreitende Kriminalität
Quelle: picture alliance/dpa/Robert Michael

An diesem Morgen greift eine deutsch-tschechische Fahndungseinheit vier illegal eingeschleuste Syrer auf
Quelle: Vanessa Nischik/WELT

Dienstagmorgen, 9 Uhr auf Gleis Eins am Bahnhof Bautzen. Während eine ältere Dame mit einem Strauß bunter Sommerblumen in der Hand auf ihre Schwester wartet, geht für vier junge Syrer hier zunächst eine lange Reise zu Ende.

Wie viele Migranten sind sie über die Balkanroute nach Deutschland gekommen. Die jungen Männer erzählen, sie seien über die Türkei nach Polen gereist, dann über die deutsche Grenze nach Bautzen. Teilweise hätten ihre Familien bis zu 11.000 Euro dafür gezahlt. Sie seien geflohen, weil in Syrien Krieg ist, sie zu wenig verdienen oder nicht zur Armee wollen. Einer der Männer hält ein Foto in der Hand. Darauf sei sein Bruder zu sehen, der in Lübeck wohne. Er wolle zu ihm, erklärt er mit gebrochenem Englisch den beiden Polizisten.

In Bautzen leben rund 40.000 Menschen. Die sächsische Stadt liegt im "Dreiländereck" nahe der polnischen und tschechischen Grenze. In der beschaulichen Stadt ist spürbar, worüber Politiker bundesweit seit einigen Monaten diskutieren: Migrationsanstieg, stationäre Grenzkontrollen, überforderte Kommunen, überlastete Bundespolizei.

Fast täglich greifen Polizeioberkommissar René Borostowski und sein tschechischer Kollege Oberleutnant Jan Capuli?, illegal eingeschleuste Migranten auf. Am vergangenen Wochenende waren es im Bereich der hier zuständigen Bundespolizeibehörde Ebersbach 138.

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Borostowski und Capuli? leiten seit April 2023 das deutsch-tschechische Fahndungsteam. Mit dem Auto fährt man von Bautzen zu ihrer Dienststelle ins tschechische Hradek etwa eine Stunde. Vor drei Jahren wurde im Rahmen eines EU-geförderten Projektes ein 17-köpfiges Fahndungsteam aus deutschen und tschechischen Beamten gegründet. Eine ähnliche Zusammenarbeit gibt es auch zwischen Polen und Deutschland in Frankfurt (Oder).

Die Polizisten haben die jeweils andere Sprache gelernt und gehen zusammen auf Streife. So soll noch effektiver im Kampf gegen grenzübergreifende Kriminalität vorgegangen werden. Derzeit liegt Fokus der Fahndungseinheiten auf irregulärer Einreise und Schleuserkriminalität.

Der tschechische Oberleutnant Jan Capuli? (l.) und Polizeioberkommissar René Borostowski (r.)
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Allein im Juli wurden laut Sondermeldungsdienst (SMD) der Bundespolizei insgesamt 8062 unerlaubt eingereiste Personen festgestellt. Zu den meisten Übertritten kam es mit 2.335 an der polnischen Grenze, dicht gefolgt von 2032 an der tschechischen und 1.925 an der österreichischen Grenze. Das geht aus einer schriftlichen Anfrage des CDU-Abgeordneten Alexander Throm an das Bundesinnenministerium vom 1. August 2023 hervor.

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Borostowski und Capuli? sind ein eingespieltes Team. Sie sprechen größtenteils auf Tschechisch, können über dieselben Dinge lachen. Das sei wichtig, um die teils herausfordernden Situation zusammen zu meistern. Borostowski (52), groß und kräftig, ist seit 30 Jahren Bundespolizist. Sein Streifenkollege Capuli? ist 46 Jahre alt, seit 25 Jahren Polizist in Tschechien und zwei Köpfe kleiner als Borostowski.

Gegen 9 Uhr haben sie die Gruppe Syrer an diesem Morgen aufgegriffen. Die jungen Männer sind illegal eingereist und mu?ssen sich wegen Versto?ßen gegen das Aufenthaltsgesetz verantworten. Sie werden von Borostowski und Capuli? in Gewahrsam genommen und zur zuständigen "Bearbeitungsstraße" der Bundespolizei Ebersbach, die im kleinen Dorf Hirschfelde liegt, gefahren. Dort werden sie erkennungsdienstlich behandelt, es werden Strafanzeigen geschrieben und es erfolgt die Verteilung auf Erstaufnahmeeinrichtungen. Oder bei Abschiebungen in die Untersuchungshaft.

Auf der einstündigen Fahrt nach Hirschfelde schlafen die Migranten auf den mit Plastikfolie überzogenen Autositzen ein. "Das ist oft so, viele haben ja eine lange Reise hinter sich", sagt Capuli?. Die meisten solcher Aufgriffe würden ohne Widerstand ablaufen. "Die haben ihr Ziel erreicht, aber natürlich stört es sie, dass wir sie aufhalten", merkt Borostowski an.

In dem 120 Einwohner großen Hirschfelde sollte eine Asylunterkunft für 150 Migranten entstehen
Quelle: Vanessa Nischik/WELT

Rosenthal, ein Ortsteil von Hirschfelde, ist zu einem Symbolbild für besorgte und auch wütende Bürger geworden. Für gescheiterte Migrationspolitik und ächzende Kommunen, die an ihre Aufnahmegrenzen gelangen. Denn letztlich sind sie es, die all die Menschen beherbergen und versorgen müssen.

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Das kleine Dorf sorgte im März dieses Jahres bundesweit für Schlagzeilen, weil es zu hitzigen Debatten um eine geplante Asylunterkunft in einer Kreistagssitzung gekommen war. Rund 150 Asylbewerber sollten im Ort untergebracht werden, das Dorf selbst hat 120 Einwohner. Der Stadtrat von Zittau hat sich mittlerweile gegen die Unterkunft ausgesprochen, das Landratsamt Görlitz sucht nach Alternativen, doch die Proteste halten an. Auf Bannern am Eingangstor der geplanten Unterkunft steht: "Tägliche Einzelfälle bald auch hier?!" und "Nein zum Heim".

Inzwischen sind Borostowski und Capuli? in der "Bearbeitungsstraße" angekommen, ein Bungalow inmitten ländlicher Idylle. Am Horizont sieht man ein Braunkohlekraftwerk in Polen. Die Syrer steigen aus dem Auto, setzen sich auf eine Bank vor einem Zelt, das vor dem Eingang zum Gebäude aufgestellt ist und als zusätzlicher Warteraum dient. Ob sie rauchen dürfen, fragt einer Polizist Borostowski. Der nickt, deutet auf den Aschenbecher wenige Meter entfernt. Sie verstehen ihn nicht, der Polizist zuckt mit den Schultern: "Naja, ist wohl gerade das kleinste Problem."

Ankunft in der Bearbeitungsstraße in Hirschfelde
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Die vier jungen Syrer warten darauf, dass sie registriert und erkennungsdienstlich behandelt werden
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An diesem Morgen herrscht hier noch wenig Trubel. Noch am vergangenen Wochenende wurden hier über einhundert Migranten registriert. Im Flur der Einrichtung hängt eine Übersichts-Tafel, auf der alle Ankömmlinge mit einer Nummer aufgelistet werden. Jeder Schritt der Registrierung wird hier abgehakt. Am Wochenende habe der Platz auf den Tafeln mal wieder nicht ausgereicht. Dann mussten sie auf den Fliesen weiterschreiben, erklärt ein Beamter.

In einem kleinen Raum nebenan sitzt ein Dolmetscher und befragt nacheinander die vier Syrer. Ein Kriminalermittler steht daneben. Er möchte mehr über die Schleuserbanden erfahren. Doch das gestalte sich regelmäßig schwierig. Nur wenige würden dazu Angaben machen. Vielen würde gedroht oder sogar das Handy abgenommen, berichtet er.

Auf einer Übersichts-Tafel werden alle Ankömmlinge mit einer Nummer aufgelistet. Doch oft reicht der Platz nicht aus
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Während der einzelnen Schritte zur Registrierung werden die Migranten in einer Zelle untergebracht
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Aus Zahlen der Bundespolizei Pirna, dem benachbarten Bereich der Direktion Ebersbach, geht hervor, dass die Anzahl unerlaubter Einreisen deutlich gestiegen ist. Wurden im ersten Halbjahr 2022 in Sachsen, Thüringen und Sachsen-Anhalt 4.183 unerlaubte Einreisen festgestellt, waren es in den ersten sechs Monaten dieses Jahres schon 10.425. Mehr als jede vierte festgestellte unerlaubte Einreise wird somit im Bereich der Bundespolizeidirektion Pirna erfasst.

Kürzlich warnte der Präsident der Direktion, André Hesse, in einem Brandbrief an das Bundespolizeipräsidium in Potsdam, vor einer Überforderung seiner Einsatzkräfte. Die "Bild"-Zeitung hatte zuerst darüber berichtet. Das Dokument liegt WELT ebenfalls vor. Hesse schreibt: "Meine Behörde stößt zunehmend an ihre Grenzen". Seit zwei Jahren herrsche eine "Dauerbelastung", und es bestünde das "konkrete Risiko, dass Durchhaltefähigkeit, Nachhaltigkeit und Qualität in der Aufgabenwahrnehmung schwinden". Er bat um weitere personelle Unterstützung.

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Während drinnen den Syrern Fingerabdrücke abgenommen werden, machen Borowski und Capuli? in einer Sitzecke neben dem Zelt eine kurze Pause. Sie sprechen mit Kollegen über die vielen Migranten, die sie aufgegriffen haben, über Schicksale, aber auch solche, die ihnen Sorge bereitet haben. Einmal habe etwa ein Mann aus Ägypten erzählt, er sei geflohen, weil er seinen Nachbarn umgebracht habe. Sie wüssten nicht, ob der Mann die Wahrheit gesagt hätte, dennoch bleibe definitiv ein mulmiges Gefühl zurück, wenn mögliche Straftäter einreisen würden, so Borostowski.

Ein Beamter nimmt von einem der vier aufgegriffenen Syrer Fingerabdrücke im Rahmen der erkennungsdienstlichen Behandlung
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In einem der Untersuchungsräume steht ein Karton mit Kuscheltieren für Kinder
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"Es wäre faktisch falsch, wenn wir sagen, dass die Migrationskrise nicht auch ein Stück weit die Kriminalität fördert", warnt Manuel Ostermann, stellvertretender Bundesvorsitzende der DPolG-Bundespolizeigewerkschaft. Die Länder und Kommunen seien nicht in der Lage allumfassend zielführende Integrationspolitik umzusetzen. Und zur Wahrheit gehöre auch, dass nicht alle Migranten ein Bleiberecht hätten und nicht alle integrationsfähig oder -willig seien, so Ostermann.

Schon seit Monaten diskutiert die sächsische Landesregierung mit dem Bund über die Einführung von Grenzkontrollen an der deutsch-polnischen Grenze, weil die Migrationszahlen immer weiter steigen. Auch Polizeigewerkschafter wie Ostermann sprechen sich dafür aus. Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) setzt jedoch weiter auf den Ausbau der Schleierfahndung. So kann die Bundespolizei verdachtsunabhängig 30 Kilometer bis ins Landesinnere Kontrollen durchführen. Dieser Ansatz gilt jedoch als personalintensiv. Faeser will daher noch mehr zusätzliche Einsatzhundertschaften an die Grenzen schicken. Damit will sie stationäre Grenzkontrollen vermeiden, die auf bundespolitischer Ebene sehr umstritten sind, könnten sie etwa das Verhältnis zu den Nachbarländern erschüttern.

Die Einsatzbelastung sei immens und die Sachbearbeitung fordere den Ermittlungsdiensten aufgrund schwacher personeller Ressourcen alles ab. "Würde die Bundesregierung Sicherheitspolitik so aufopferungsvoll und zielführend umsetzen, wie die Bundespolizisten tagtäglich an den Grenzen arbeiten, dann hätten wir ein Problem weniger", meint Polizeigewerkschafter Ostermann.

Auch Jochen Kopelke, Bundesvorsitzender der Gewerkschaft der Polizei (GdP), sagt, es brauche derzeit eine besonders starke Polizeipräsenz an der Deutschen Grenze zu Polen und Tschechien. Die Lage sei ernst. "Wir als GdP fordern von der Bundesregierung die Ratifizierung der gesamten Ostgrenze, damit affektiv an vielen Orten grenzpolizeiliche Maßnahmen getroffen werden können", so Kopelke. Konkret schlägt er damit vor, ein System der flexiblen Kontrollen an wechselnden Schwerpunkten, durchzuführen, wie es in Frankreich möglich ist. Die GdP spricht sich wiederum gegen stationäre Grenzkontrollen aus.

"Vor allem bei der Bekämpfung der Schleuserkriminalität sowie der Geldwäsche sollte jedoch polizeilich der Hebel angesetzt werden. Die Polizei darf keine Kriegsflüchtlinge aufhalten, aber muss die kriminellen Schleuser jagen und dingfest machen", so Kopelke weiter.

Die Pause von Borostowski und Capuli? dauert indes nicht lange, eine Meldung kommt rein: Ein Schleuser soll nahe der Autobahn-Abfahrt Bautzen West mindestens 39 Syrer abgeladen haben. Darunter zwei Familien mit Kindern. Die Suche wird von einem Polizeihubschrauber unterstützt.


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